Vom dualen Wachzustand in die Ruhe des Herzzentrums: Diese Entspannung schenkt dir Yoga Nidra

Vom dualen Wachzustand in die Ruhe des Herzzentrums: Diese Entspannung schenkt dir Yoga Nidra

5-Phasen-Übung nach Swami Rama

Ein Gastbeitrag von Anna Wulf

Yoga Nidra – der yogische Schlaf – ist inzwischen kein Geheimnis mehr und wird weltweit als eine Kunst der Entspannung hoch angepriesen. Dieses kraftvolle Werkzeug wird nicht nur zur Lösung von Spannungen jeglicher Art eingesetzt, sondern dient auch als Transformationshilfe, die Menschen darin unterstützt, eine Veränderung von innen heraus einzuleiten.

Meine erste Begegnung mit Yoga Nidra liegt nun schon mehrere Jahre zurück. Und ich kann mich immer noch sehr genau an diese erste Erfahrung erinnern: ein Gefühl der Leichtigkeit, der Schwerelosigkeit, der Leere und gleichzeitig der völligen Präsenz und Klarheit. Die Momente des Ganz-Seins und des In-Sich-Ruhens – auch wenn es nur kurze Momente waren – veränderten meine eigene Yoga- und Meditationspraxis grundlegend. Das innere Lauschen und Beobachten, das Wahrnehmen dessen, was ich im Moment der Praxis brauche, anstatt ein „bestimmtes Programm zu absolvieren“, haben mir unglaublich viel Weichheit und Mitgefühl mir selbst gegenüber geschenkt.

In mir entstand der Wunsch, mehr über Yoga Nidra zu erfahren. Ich fand mich also in einer Yoga Nidra-Ausbildung wieder, wo ich ausschließlich in der Satyananda-Tradition unterrichtet wurde. Diese sehr verbreitete Version von Yoga Nidra führt die Übenden in zehn aufeinander aufgebauten Schritten in den Alphazustand und arbeitet dabei mit Sankalpa und Visualisierungen.

Verschiedene Schulen des Yoga Nidra weltweit

Dass es noch weitere Schulen des Yoga Nidra gibt, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Eine Tradition aus dem Himalaya, die durch Swami Rama bekannt wurde, lernte ich viel später kennen. Diese Form des Yoga Nidra basiert auf der Philosophie von OM und beinhaltet vier Übungen, die alle zusammen eine Yoga Nidra-Praxis bilden oder aber auch einzeln praktiziert werden können. Weitere Formen entstanden in den USA: Sie verbinden die philosophischen Aspekte der Praxis mit den neuesten Forschungen aus den Neurowissenschaften.

Letztes Jahr kam mir die Idee, all diese verschieden Formen von Yoga Nidra zu verbinden und in einem Ausbildungskurs zusammenzufassen. Denn eine Yogapraxis ist aus meiner Sicht nichts Starres, was streng traditionsgetrennt praktiziert werden muss, sondern vielmehr etwas sehr Lebendiges, was sich mit den Bedürfnissen des modernen Menschen verändert. Ich möchte YogalehrerInnen ermutigen, ihr eigenes Yoga Nidra zu kreieren. Denn wenn wir wissen, was die einzelnen Elemente bewirken, können wir eine Yoga Nidra-Sequenz zusammenstellen, die unseren SchülerInnen die Erfahrung schenkt, die sie in ebendiesem Moment brauchen.

Die Philosophie von OM und die Mandukya Upanishad

Die Mandukya Upanishad bildet die philosophische Grundlage für die Yoga Nidra-Praxis nach Swami Rama. Die Mandukya Upanishad ist ein Text aus nur zwölf Versen, der im 1.-2. Jahrhundert n. Chr. entstand. Er verbindet die vier Bewusstseinszustände mit dem Mantra OM (AUM + Stille) und zeichnet den Weg zum spirituellen Erwachen.

Die Mandukya Upanishad geht davon aus, dass das gesamte Universum in der Silbe OM enthalten ist. Also nicht nur das, was wir in der uns bekannten Dimension der Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfahren, sondern auch all das, was außerhalb von Raum und Zeit liegt. OM ist die absolute Realität aller Objekte der Welt – sowohl der manifestierten wie auch der nicht-manifestierten. Das individuelle Selbst (Atman) und alles, was existiert, ist höchstes Bewusstsein (Brahman).

Wie auch alles andere, was erfahren werden will, manifestiert sich das individuelle Selbst auf verschiedenen Ebenen. Diese Ebenen sind die vier Bewusstseinszustände, die ineinander übergehen und die wir täglich erleben: aus dem Wachsein gehen wir in den Traumschlaf über, aus dem Traumschlaf in den Tiefschlaf, aus dem Tiefschlaf in Turiya, den vierten Zustand, der alle drei anderen Zustände umfasst. Die Voraussetzung für Turiya ist die Erkenntnis, dass Atman (individuelles Bewusstsein) und Brahman (universelles Bewusstsein) eins und dasselbe sind.

Im Wachbewusstsein erleben wir die eigenen Aktivitäten und die Objekte in der Außenwelt bewusst. Das ist ein Zustand der Dualität: wir erleben uns selbst als Subjekt und alles andere als Objekt. Unsere Wahrnehmung ist nicht nur durch diese subjektive Sichtweise beschränkt, sondern zusätzlich auch durch den erlebten Rahmen von Zeit, Raum und Ursache.

Im Traumbewusstsein ist der Geist bewusst nach innen gerichtet und hat Zugang zum Unterbewusstsein, wo feinere Spuren früherer Erfahrungen verborgen sind. Im Traum können wir uns alles erschaffen, was wir aus der Außenwelt kennen, und uns ins Vergnügen stürzen, dass uns im Wachbewusstsein nicht zuteilwird (eine Art Kompensierung des Mangels). Mit anderen Worten ermöglicht uns das Träumen, unerfüllte Bedürfnisse zu befriedigen.

Im Tiefschlaf zieht sich das Bewusstsein zurück und erlebt weder physische noch mentale Phänomene. Wir sind weit von der Welt der Objekte entfernt und dürfen in die Erfahrung der Ruhe, Ordnung und Einheit eintauchen. Im Tiefschlaf begegnen wir einer Leere, der Glückseligkeit innewohnt. Was hier aber fehlt, ist die Bewusstheit: Wir nehmen diesen Zustand nicht bewusst wahr. Deshalb ist die Erfahrung der Glückseligkeit im Tiefschlaf nicht vollständig. Yoga Nidra ist die Technik, die Bewusstsein in die Unbewusstheit bringt. Hier lernen wir, die Leere zu erfahren.

Im Turiya erlebt das Bewusstsein die anderen drei Zustände, identifiziert sich aber mit keinem von den dreien. Es ist ein Zustand des inneren Friedens, der inneren Glückseligkeit, die sich immer weiter ausdehnt und außerhalb der Idee von Raum, Zeit und Ursache existiert. Der Schleier der Unwissenheit ist gefallen, das Erfahren der Realität wird nicht mehr durch die dualistische Wahrnehmung gefärbt. Im Turiya erfahren wir höchsten inneren Frieden und erkennen, dass Atman Brahman ist; und damit auch, dass die vergängliche Welt sich grundlegend von der essenziellen Natur des reinen Bewusstseins unterscheidet.

Das OM (AUM) und die Bewusstseinszustände

Die Klänge A-U-M und die Buchstaben A, U, M beschreiben die drei Zustände des Wachens, des Träumens und des Schlafens. Der vierte Zustand, der verbogen bleibt, kann nur in der Stille erfahren werden. Die Stille, die nach dem A-U-M folgt, ist der Ausdruck eines Zustandes, der mit Worten und Klängen nicht auszudrücken ist. Damit repräsentiert der Klang OM alle drei Bewusstseinszustände, die an der Manifestation, Erhaltung und Zerstörung beteiligt sind, und den vierten Zustand, turiya, der alle drei beinhaltet und gleichzeitig jenseits davon liegt.

Yoga Nidra nach Swami Rama – die Übung

Durch Yoga Nidra erforschen wir die drei Bewusstseinszustände und die damit verbundenen Aspekte des Seins: Körperwahrnehmung, Atemwahrnehmung, das Beobachten der Gedanken und das Ruhen im Herzzentrum. Wir leeren den Geist von angesammelten samskaras und nähern uns Stück für Stück dem inneren Frieden. Im Zentrum der Praxis steht das Ruhen im Herzen – eine Erfahrung der Stille und Leere, in der wir fünf bis zehn Minuten verweilen.

Die Yoga Nidra-Übung nach Swami Rama beinhaltet fünf Phasen und dauert ca. eine halbe Stunde.

PHASE 1 – Vorbereitung:

Wir suchen nach einer guten und bequemen Körperausrichtung und stimmen uns innerlich auf die Praxis ein.

PHASE 2 – Erste Entspannung:

Durch die Übungen der Körper- und Atemwahrnehmung leiten wir die erste Entspannung ein und ziehen die Sinne zurück.

PHASE 3 – Komplette Entspannung:

In dieser Phase wird der Alphazustand eingeleitet. Dafür werden verschiedene Techniken benutzt: Body Scan, Shavayatra (61 Punkte-Übung) oder auch das Kreisen des Bewusstseins durch den Körper – vielleicht kennst du es aus dem Satyananda Yoga Nidra.

PHASE 4 – Reinigung des Energiekörpers durch Atemtechniken:

Prana Shuddi (Wechselatmung durch mentale Aktivität) ist hierfür eine wunderbare Möglichkeit und ist gut anzuleiten. Shitali Karana (Aufsteigender Atem) ist eher für fortgeschrittene SchülerInnen zu empfehlen.

PHASE 5 – das eigentliche Yoga Nidra:

Das Ruhen im Herzzentrum. Das Hineinentspannen in die Stille des Herzens fällt nicht immer leicht. Doch das bewusste Erleben des NICHTS ist eine kostbare Verbindung zu den Tiefen des eigenen Selbst. Je öfter wir Yoga Nidra praktizieren, desto leichter finden wir zurück zu unserer Quelle des Seins.

 




Anna Wulf

Anna wusste schon immer, dass Yoga ihr Zuhause ist. Nach dem Philologie-Studium in Hamburg absolvierte sie eine Yogalehrer-Ausbildung und unterrichtet seit 2006 Yoga und Meditation. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem Erforschen des Seins und der Harmonisierung aller Aspekte der Persönlichkeit. Dafür nutzt sie nicht nur Yogatechniken im klassischen Sinne, sondern auch andere Wege und begleitet ihre SchülerInnen durch Yoga Nidra, Breathwork, Klang, Reiki und Ayurveda-Massagen. Annas nächste Yoga Nidra-Ausbildung beginnt im September 2023.

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